Faszinierende neue Methoden ermöglichen der Forschung neue Erkenntnisse über die Vergangenheit und damit über die Ursprünge unseres Organisationswissens: mit neuen Analysemethoden, die Erbgut und DNA entschlüsseln können sowie mit Radiokarbonmethoden und zusätzlich vertiefter Linguistik (Suche über Wortstämme) und einem anderen Mythologieverständnis kommt in neuerer Zeit die Vergangenheit immer näher. So kann bestimmt werden, woher Menschen kamen, in welcher Jahreszeit sie wo wohnten, ob Vieh auf einer Alp gesömmert wurde.

So wurde die Donauzivilisation im europäische Raum als älteste Hochkultur (rund 1’200 Jahre älter und mit grösseren Städten als Mesopotamien und der nahe Osten) genauer unter die Lupe genommen. Es wurde ersichtlich, dass die Menschen bis vor rund 5’000 Jahren genetisch gesehen matrilinear, also entsprechend der mütterlichen Linie zusammen lebten. Sie waren sehr mobil, hatten allenfalls Jahreszeiten-Wohnorte, lebten mit jahreszeitlichen Unterschieden zu rund 85% von pflanzlicher Nahrung – im Winter mit etwas mehr Fisch und Fleisch. Nach einem stufenweisen sesshafter Werden, das mit saisonalen festen Unterkünften begann, gab es rund 7’000 Jahre vor unserer Zeitrechnung im Donau- und Balkanraum Städte mit mehreren 10’000 BewohnerInnen. 

Was nun für uns aus Organisationssicht interessant ist: Gemäss allen Angaben gibt es in dieser Zeit nur Hinweise auf egalitäre Organisations- und Lebensformen: kein Haus ist grösser als ein anderes, kein Grab reicher ausgestattet als andere, die körperlichen Spuren vom Arbeiten, von Unfällen sind bei allen gleich. Es gab aber wahrscheinlich die Sippe mit rund 30-40 Personen als «kleinste» Einheit, eher nach Alter und teilweise Geschlechtern gruppiert, sicher ohne Einzelzimmer, sondern immer in Räumen für grössere Gruppen. Es gab ferner Quartiere und die dazugehörende Landwirtschaft vor den Toren der Städte – bei Städten über 10’000 EinwohnerInnen wurde im Zeitraum um 5’000 vor unserer Zeit bis zu 7 Kilometern Einzugsgebiet rund um die Städte nachgewiesen. Bezüglich Organisationsformen würden sich daher organische, zyklische, tribale und evolutionäre Formen anbieten, vieles könnte an die heute erst aufkommenden agilen Organisationsformen erinnern, da auch damals enorme Flexibilität, Umgang mit Unwägbarkeiten und Einbezug aller Beteiligten nötig war. Ein Akkumulieren von materiellen Gütern kann nicht aufgefunden werden und war offenbar fremd. Grösse war kein Argument, jedes Haus hatte in der Nähe der Feuerstelle einen kleinen Altar mit kleinen weiblichen Figuren. Die Städte hatten keine Verteidigungswälle, es gab offenbar noch keine Kriege und Konflikte.

Enorme äussere Veränderungen wurden bewältigt: zum einen starke Klimawechsel mit den Zwischeneiszeiten. Um ca. 6’700 vor unserer Zeit schmolzen als Folge einer Wärmeperiode viele Gletscher im Norden, Atlantik und Mittelmeer stiegen enorm an. Die Grossstadt Catal Hüyük in der heutigen Südtürkei am Mittelmeer musste zufolge einer Malariaepidemie verlassen werden, das Wasser stieg so stark, dass die Landbrücke zwischen Europa und Asien am Bosporus durchbrochen wurde (bekannt als Sintflut) und das Schwarze Meer auffüllte, was ganz andere meteorlogische Bedingungen schuf: Regen und Trockenheit verschoben sich an andere Orten. Zudem gab es dann um 6’200 und um 4’500 vor unserer Zeit kühlere klimatische Bedingungen, die eine Umstellung der Ernährung notwendig machten.

Bezüglich Organisationsformen ergibt sich die Faszination darüber, wie das alles bewältigt werden konnte. Die uns später bekannten Hierarchien in Ägypten, die Oligarchien in Griechenland, die Monarchien in Rom und das von der katholischen Kirche geprägte dunkle Mittelalter haben Schleier über diese Zeit gelegt. Vielleicht findet man dereinst noch mehr heraus über diese Zeit, in der das, was heute als VUCA (volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig) beklagt wird um ein Vielfaches übertroffen wurde. Vor allem aber gibt mir die Geschichte so Respekt vor den vergangen Leistungen; es relativiert etwas die Idee, dass wir immer besser Organisationsformen entwickeln und aktuell auf dem Gipfel der Erkenntnisse seien.

In der Schweiz ( konkret vertieft in : Archäologie in der Schweiz, Lebensweisen in der Steinzeit von Brigitte Röder, Sabine Bolliger Schreyer und Stephan Schreyer ) verlief vieles ähnlich wie sonst in Europa –– zufolge der grossen Gletscher in den Alpen mit ihren Ausläufern im Mittelland wurde aber vieles aus der Zeit vor der letzten Eiszeit zerstört. Danach beginnen sich die Erkenntnisse aber zu verdichten, und es zeigt sich, weshalb ich früher meinte, hier hätte man Mammuts gejagt: durch die groben Grabungsmethoden wurden nur grosse Fundstücke erkannt. Heute sieht man mit feinmaschigeren Forschungsmethoden all die Kräuter, Fisch-, Geflügel- und andere Essensreste. Zur Zeit der Wildbeuter gab es beim Aktionsradius der Menschen vor der Sesshaftigkeit von 200 Kilometern Umkreis für eine Sippe hier wohl nur sehr wenige Menschen. Allerdings gibt es viele Hinweise auf grosse Mobilität: immer wieder sind Fundstücke aus dem Mittelmeerraum bis nach Anatolien hier aufzufinden – es gab einen weit reichenden Handel. Mit Beginn der partiellen Sesshaftigkeit nehmen die Funde zu. In den temporär bewohnten und gut erhaltenen Pfahlbausiedlungen wird beispielsweise ersichtlich, dass es wahrscheinlich nach Alter gestufte Siedlungsteile gab: die einen auf der Landseite gingen im Hinterland Kräuter sammeln und jagen, die anderen auf der Seeseite gingen fischen und betrieben Schweinezucht.

Aus Sicht der Entwicklung von Organisationsformen ist die Sesshaftigkeit sehr interessant. Es brauchte einige Zeit, bis sie sich durchsetzte und es gab lange parallele, nomadische und halbnomadische Lebensformen, denn aus Sicht der Menschen war es eventuell eher eine unkluge Entscheidung, sesshaft zu werden: die Menschen lebten weniger gesund, einseitig ernährt und körperlich mehr belastet und dadurch weniger lang. Durch die Landwirtschaft – zu Beginn war es primär der Ackerbau, die Viehzucht kam erst rund 2’500 Jahre später dazu – brauchten sie mehr Arbeitskräfte (wozu auch Kinder gehörten). Die Frauen gebaren neu acht bis neun anstelle der bisher durchschnittlich drei bis vier Kinder. Sie konnten damit nur kürzer stillen und schlechter (als mit den vitaminreichen Kräutern in der Wildbeuterzeit) ernähren, die Kindersterblichkeit nahm stark zu. Und speziell: Um 7’000 vor unserer Zeit waren Frauen und Männer gleich gross und hatten am Oberarm die gleiche Knochendicke. Ab Beginn der Sesshaftigkeit wurden beide deutlich kleiner, die Männer holten erst im Mittelalter wieder fast zur gleichen Grösse wie davor auf und blieben bis heute weniger oder mehr konstant. Die Frauen wurden aber wesentlich kleiner, ihre durchschnittliche Armdicke sank auf rund zwei Drittel der Männerarme, nahm im Spätmittelalter etwas zu und fiel dann weiter zurück. Wie weit ist dies ein Ausdruck von sich einspielender Arbeitsteilung, wie weit ist das ausschliesslich die Folge der stärkeren Belastung der Frauen durch die Geburten oder Ausdruck der Position der Frauen in der Gesellschaft? Und spielte die schlechte Ernährung (weniger vielfältig, vitaminärmer, mehr Getreide und Kohlehydrate), kombiniert mit der kleinen Eiszeit eine Rolle? 

Bekannt ist, dass bis 4’500 vor unserer Zeit die egalitäre Donaukultur bestand und dass diese mit ihren hochentwickelten Produkten regen Handel mit den Steppenvölkern im Norden des Schwarzen Meeres betrieben und die dortigen Viehzüchter eher eine patriarchale, akkumulative Kultur betrieben. Aus 4’400 vor unserer Zeit wurden erstmals Gräber gefunden, die darauf hinweisen, dass diese Völker sich am Rande zu den Steppenvölkern friedlich vereinigt hatten, dass die Viehhirten dort aber erstmals massive Akkumulation und Statuseliten geschaffen hatten und in mit feinen Goldarbeiten und mit viel Schmuck – zwar als Donauhandwerk gefertigt aber mit Motiven aus der Steppe – ausgestatteten Gräber beigesetzt wurden. Ferner, dass die Viehzucht dann langsam in der Donaukultur Einzug hielt und die Kulturen sich verschmolzen. Als um 4’200 vor unserer Zeit eine neue Kälte- und Schlechtwetterperiode einsetzte, verliessen die Donauvölker ihre Wohnstätten auf den Hügeln, zogen eher ins Flachland, stellten nach und nach – die Vermutung ist, dass die fruchtbaren Böden weggeschwemmt wurden – mehrheitlich auf Viehzucht um und es sind erste Spuren von zerstörten und abgebrannten Dörfern sichtbar. Offenbar gab es in der Knappheit erste Kriege. Das Handwerk verschwand, die Schrift, die als erste Kultur an der Donau um 4’500 vor unserer Zeit, rund 1’200 Jahre vor den Sumerern entstanden war, geriet in Vergessenheit, es sind praktische keine Reste einer Kultur mehr auffindbar und es gibt viele Zeichen, dass es Fluchtbewegungen nach den Kykladen und Kreta gab, wo ähnliche Motive, Kulturelemente, Schriftzeichen, Göttinnen und matriarchale Aspekte in der Minoischen Kultur aufkeimten, bevor auch dies zufolge eines Vulkanausbruchs oder eines Tsunamis um 1’500 vor unserer Zeit ein Ende fand. Vieles davon tauchte dann als männliche Götter und griechische Kultur wieder auf – das ist das, wo bei mir in der Schule dann die Geschichte begann.

Haben die aus dem nordöstlichen Asien Leben, Ernährung, Kultur und Organisationsformen in Europa geprägt?

Der Exkurs in die Vergangenheit zeigt: Es ist klar, dass es hunderttausende Jahre mit sehr erfolgreicher (sonst hätte die Menschheit diese Dauer nicht überstanden) matrizentrischer respektive matrifokaler Kultur und Organisationsform gab, in der die Sippen sich entlang der mütterlichen Linien organisierten, zusammensetzten und weiterzogen. Es ist klar, dass zwischen 4’400 und 4’200 vor unserer Zeit andere Kultur- und Organisationsformen aufkamen und in der Folge überhand nahmen – die Geschichte zeigt auf, dass eine Mischung von Umweltfaktoren (Klima- und Natureinflüsse und -katastrophen), selbst verursachte Faktoren (Folgen von Sesshaftigkeit, Mangelernährung usw.) sowie friedlicher Vermischung von Völkern und Kulturen entscheidend waren. Allerdings – und das wird häufig vernachlässigt – gibt es weiterhin verschiedene gegenwärtige, als Randerscheinungen betrachtete matriarchale und auch egalitäre Kulturen und sehr viele matriarchale oder gemischte Kulturelemente, die in Bräuchen enthalten und wieder am Aufkeimen sind.

Belegt ist, dass es offenbar egalitäre Lebensformen gab, Zeiten ohne Krieg (was vielleicht auch eher möglich war, da es eine geringe Bevölkerungsdichte gab) und Jahrtausende ohne Akkumulation von materiellen Gütern durch einzelne, auch nicht durch Gruppen. Und belegt ist, dass innerhalb von 200 Jahren ab Beginn der Akkumulation von Besitz und damit einer Kulturwende kriegerische Zerstörungen aufkamen. Seither gab es viele Kriege und Versuche, Kontrolle über Besitz und Ressourcen zu gewinnen.

Könnte es sein, dass die externen Bedingungen menschliche Organisation Optionen eröffnen, die mittels verschiedener Organisationsformen wahrgenommen werden können, die immer auch einen systeminternen Impact haben? Beispielsweise, dass der Umgang mit der Fülle aber auch Unwägbarkeit und zeitweiser Knappheit der früheren Natur mit egalitäre Gruppenformen gestaltet werden konnte, und so gut überlebt werden konnten? Und dass Knappheit aber auch mit straffer Organisation überstanden werden kann, die logischerweise das, was überstanden werden soll (Knappheit), als negativen Wert setzt und damit lokale interne Überfülle bei wenigen (also Ungleichheit) der Preis dafür ist – und könnte es sein, dass das etwas mit organischer, allenfalls weiblicher respektive linearer, mechanischer, eher männlicher Vorgehensweise zu tun haben könnte? Und dass uns die Wahl eigentlich offen steht, weil dasselbe mit verschiedenen Formen erreichbar ist?

Das Buch zeigt mit dem Blick in die Geschichte mögliche Umrisse von Organisationsverständnissen, dass es lange sehr nachhaltige Organisationsformen gegeben hat, und dass sich diese je nach Rahmenbedingungen jeweils als Lösungsversuche für die Lebensumstände und die Ansprüche respektive Bedürfnisse und Sichtweisen der Menschen verstehen lassen. Und vor allem, dass das Repertoire an Organisationsformen noch aufzufinden, auszuloten und auszuschöpfen ist – das, was wir jetzt haben ist nicht die einzige mögliche Welt.

Insofern ist das Buch erfrischend im Aufzeigen weiterer Horizonte und regt an, Organisationsformen als mögliche Alternativen, nicht als gegeben anzunehmen.

Das Rätsel der Donauzivilisation, die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas von Harald Haarmann