Reckwitz – ein Popstar der europäischen Soziologen – beschreibt viele heutige Paradoxien: wir alle sind immer singulärer, individueller. Obwohl alles immer mehr standardisiert ist. Es gibt Kleider von der Stange für Individuen, Autos, Wohnungen, Möbel – am Ende sieht alles fast gleich aus und doch haben alle viel in ihre Singularität investiert. Die gegenwärtige Spätmoderne zeigt, dass Standardisierung und Singularisierung, Rationalisierung und Kulturalisierung, Versachlichung und Affektintensivierung gleichzeitig immer radikaler erfolgen. Er zeigt auf, dass in der Hintergrundstruktur Standardisierung, Rationalisierung und Versachlichung laufen, um in der Vordergrundstruktur mehr zu personalisieren, kultivieren und Affekte zu intensivieren.
Mit dem Buch wird auch bewusst, wie Vereinsamung und Vereinzelung daran sind, einen Zenith zu überschreiten, der auf der anderen Seite von Konstruktionismus, neuen sozialen Bewegungen (in nationalistischer und kollaborativer Richtung) und Sinnfragen gehalten wird.
Während man früher in seinem Leben ein Ziel verfolgte und so dem Leben einen Sinn gab, so sei man heute Kurator der permanenten Ausstellung seiner eigenen Biografie und erhebe deren Perfektionierung zum eigentlichen Lebenssinn. Das kuratierte und auf Facebook und anderswo gegen Likes offengelegte Leben ist denn auch eine der plakativen Ausprägungen dieser Singularitäten. Bei so viel Externalisierung von Leben ist eine grosse Anfälligkeit für Enttäuschung gegeben. Und gleichzeitig wird bei jenen zwei Dritteln der Gesellschaft, die ihre Singularität nicht so sichtbar leben der Wunsch nach Klarheit und Ausrichtung bewusst – Reckwitz ortet genau da auch einen der Gründe für das Aufkommen von rückwärts- oder autoritätsorientierten Bewegungen. Damit ist die Diagnose des Autors auch ein Aufruf zu einer welt-, nicht nur selbstfokussierenden Lebensweise.

Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz