Eine immense Fleissarbeit und komplexe Kooperation: 25 Fachleute haben an diesem Buch mitgeschrieben und legen ein umfassendes, gut recherchiertes, fundiertes, breit abgestütztes und gut geliedertes Manual zur Salutogenese vor.

Es beschreibt im ersten Teil umfassend, detailliert und kenntnisreich die Grundlagen der Salutogenese: Entstehung, Ausdehnung, Facetten und auch die Bedeutung für Gesellschaft und Volkswirtschaften. Das ist eindrücklich, informativ, und zeigt die gedankliche Reichweite des Konzeptes. 

Im zweiten Teil werden Forschungsfragen vorgestellt. Die Weiterentwicklung der Theorie von Antonovsky wird vorgestellt. Der Sense of Coherence, der Kohärenzsinn als zentrales Element wird von einer weiteren Seite beleuchtet: Der Sense for Coherence, der Sinn FÜR Kohärenz ist ein Ausdruck noch verstärkter Gesundheitsressourcen. 

Die Übertragung des Modells auf Volksgesundheit, ein Anspruch der durchwegs erhoben wird, wird diskutiert und bezweifelt: Auch die Nazis, Mafia, Apartheidpraktizierende erleben einen starken Sense of Coherence, da für sie – obwohl auf Kosten anderer – die Welt stimmig ist. Die Streitfrage wird geklärt, dass die Nazis eben doch gesund waren, man kann sie nicht als unzurechnungsfähig und damit nicht schuldfähig bezeichnen. Noch stärker, die Hypothese von Horst-Eberhard Richter „wer nicht leiden will muss hassen“ (als Copingversuch, mit der Unerreichbarkeit der Liebe fertig zu werden) zeigt zukunftsträchtig auf, dass eben Hass auf andere helfen kann, die eigene, unstimmige Welt doch noch köharent zu halten (siehe Trump, Coronaleugner, Extremismus usw.). Damit ist die Salutogenese nicht direkt als Volksgesundheits-Massstab verwendbar – in der Weiterentwicklung des Sense FOR Coherence liegt da doch noch eine Chance, wenigstens für die Gesundheitsförderung.

Im dritten Teil werden Evidenzen und empirische Befunde beschrieben. Es ist eindrücklich, welche starker Zusammenhang zwischen Kohärenzsinn und Gesundheit sowie Gesundfühlen festgestellt wird. Und wie sowohl bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch Stärkung des Kohärenzsinns das Befinden verbessert werden kann. Und umgekehrt, wie jede individuelle Förderung – beispielsweise bei in der Schule benachteiligten, leistungsschwachen Kindern – neben den Leistungen auch deren Kohärenzsinn stärkt. Es entsteht der Eindruck, dass der Kohärenzsinn mit den Aspekten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit auch die Selbstwirksamkeit umfasst, und dass deren Stärkung eigentlich immer eine Verbesserung der Befindlichkeit mit sich bringt. Antonovsky liegt nahe bei der Existenzanalyse – und hat ja auch die gleichen Wurzeln im Holocaust – wo eigentlich ganz ähnliche Aspekte aufgegriffen werden (siehe dazu das kommentierte Buch zum „Existentiellen Coaching“). Er beschreibt das Urbedürfnis von Menschen, ihre Situation verstehen, mitgestalten und mit Sinn versehen zu können. Insofern ist es wirklich ein universeller Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität.

Teil vier umschreibt die Praxis der Gesundheitsförderung, die aktuell an Grenzen stösst: Der Zweifel, wie viel Gesundheit nötig sei und ob man es sich leisten könne, diese noch mehr zu fördern, begrenzt gegenwärtig die Budgets der Präventionsarbeit. So allgemeingültig die von Antonovsky formulierte Salutogenese ist, so selbstverständlich scheint sie in der Anwendung, beispielsweise in Sozialarbeit oder Coaching: das haben wir in diesen Bereichen schon immer so gemacht, dass zuerst daran gearbeitet wurde, die Situation verstehen zu können, danach die Handlungsspielräume und Handhabbarkeit auszuloten und schliesslich gesucht, in was an Lernen und Sinngebung möglich ist. Empowerndes, selbstwirksamkeitsstärkendes, ressourcenorientiertes Coaching funktioniert so – es scheint nochmals, als habe die Salutogenese einfache, übergeordnete und in vielen förderlichen Verfahren gültige Basisgesetze formuliert.

Teil fünf, Salutogenese und Bildung zeigt zukünftige Herausforderungen auf: In der Schule wird noch zu sehr auf Ergebnisse fokussiert (Wohlbefinden, Gesundheit, Erfolg) und noch zu wenig auf das, was die salutogenen Voraussetzungen dazu sind, die es braucht, um salutogene Wirkung zu erzeugen – hier zeigt sich aber auch, dass der Methodenkoffer der Salutogenese noch weiter entwickelt werden muss. Es sind auch – im Sinne von Salutogenese – gelungene Beispiele aufgeführt.

Teil sechs beschreibt den Menschen Antonovsky und auch die Herausgeberin und AutorInnen – auch hier interessante Darstellungen.

Ein Buch, das neben Salutogenese generell Impulse zu Lebensgestaltung und zu Gestaltung von förderlichen Verhältnissen für einzelne und Gemeinschaften enthält.

Salutogenese kennen und verstehen. Konzept, Stellenwert, Forschung und praktische Anwendung. Herausgegeben von Claudia Meier Magistretti