Ein faszinierendes Thema, das ein Schlaglicht von aussen auf den Berufsstand der Beratung wirft, wird da aufgegriffen: was waren die Personenkonzepte in der Schweiz, ein Stück weit auch die meiner Eltern und der mich von der Geburt bis ins Erwachsenenalter begleitenden Zeit.
Ein besonderer Zugang ergibt sich darüber, wie man mit Abweichungen vom „Normalsein“ umging, und wann eine Behandlung resp. eine Korrektur zur Normalität nötig wurde. Ich wuchs als Sohn des Direktors einer psychiatrischen Klinik mit 800 Patienten in einer Zeit auf, als man noch wusste, was normal und was nicht normal ist. Die Kranken waren „drinnen“, die Gesunden draussen. Den Kranken sah man ihre Leiden häufig an: sie schrieen, bewegten sich speziell, berichteten allen von Ihren Leiden oder waren ganz still. Der Alltag damals ist – wenn auch etwas beschönigend und teilweise verulkt – lebhaft von Joachim Meyerhoff in: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war, dargestellt.

Bis in die 1950-er Jahre nahm man an, dass entweder alle eigentlich Normal wären, und man Kranke mit Malariakuren, Elektro-, Insulin- und anderen Schocks aus dem Kranksein herausholen könnte – die Person würde sich dann wieder als Gesunde in einem neuen Gleichgewicht finden. Es gab Ärzte, die glaubten, alle wären eigentlich schizophren, nur durch „gesunde“ Widerstandskräfte würde die Krankheit eingedämmt – bei den Kranken würden eben diese Widerstandskräfte eine Lücke haben. Diese Idee gilt ja weiterhin bei Parasiten, Krebs, Krankheiten – und wird mit den Resilienzkonzepten weiterhin gestützt.
Mit der Entdeckung und Beforschung von psychoaktiven Stoffen, angefangen bei Meskalin und LSD begannen Zeiten, in denen man die innere Chemie beeinflusste – und dazu einen Fixpunkt haben musste, was denn „Normal“ sei. In den vergangenen 60 Jahren hat sich in der Psychiatrie sehr viel verändert: Die Patienten wurden stiller, normaler, Psychiatrie wurde ambulant. Die Grenze zwischen drinnen und draussen ist verschwommen. Bezogen auf „Gesunde“ führte das dazu, dass man „Normalität“ zu differenzieren begann – es gab gut, etwas besser, super. Gesundheit wurde nicht mehr als Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern als ein Kontinuum zwischen schlechtem und sehr gutem Befinden. Die frisch gefundenen Mittel helfen auch „Gesunden“ nach. So sind wir – dank der Psychiatrie – in eine Zeit von Kokain, Ritalin und Leistungsoptimierungsmittel gelangt, die die früher dröge Chemie andere Industrien bezüglich Umsatz und Profit ablösen liess. Pharma. Krankheit und verschiedene Stufen von gesund und leistungsfähig fühlen befruchten sich gegenseitig. Noch in den 1950-er Jahren sah man beispielsweise einen Anteil von weniger als 0,01 Promille depressiver Menschen als üblich an (und hoffte gar an einem Kongress 1957, dass das Problem der psychischen Krankheiten in absehbarer Zeit gelöst würde), in den 2000-er Jahren geht man von gut 5%, immerhin dem 500-fachen, aus. Unabhängig vom individuellen Leiden der Betroffenen ist eine Verschiebung des zugrunde gelegten Normalitätsbegriffs offensichtlich.
Was heisst das für unser Berufsfeld von Organisationsberatung und Coaching? Anpassungsfähigkeit, Leistungsvermögen, Soziabilität werden heute – mit der Erfahrung von Psychopharmaka – anders gemessen als früher. Wie wird sich das mittelfristig auf das Organisieren, auf den Berufsstand der Organisationsberatung und des Coachings auswirken? Wie modellierbar sind „Normalansprüche“ an Belastbarkeit, Kooperation und andere entscheidende Kriterien der Employability? Und wie muss die heute immer mehr geforderte Authentizität medikamentös oder mit Nahrungsergänzung gestützt werden? Das erweitert die Dynamik des Feldes und der verschiedenen Modelle, da die Variable „Arbeitskraft“ als sehr gestaltbar erscheint.
Das Buch zeigt spannende Facetten auf, und stellt Normalität – die heute ja nicht nur medikamentös, sondern auch mit Ernährung, Sport, Nahrungszusätzen, Weiterbildung, Arbeitsintegration und anderen Trainings gefördert oder hergestellt werden kann in einen grösseren Kontext, so dass eine „gesunde“ Relativierung möglich und ein „normales“ Verhältnis dazu erleichtert wird.

Zugriffe auf das Ich – Psychoaktive Stoffe und Personenkonzepte in der Schweiz, 1945 bis 1980 von Magaly Tornay
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