Ein faszinierendes Buch, mit kritischer Distanz und einfühlsamer Nähe gleichzeitig geschrieben. Und zwar in der Dramaturgie auch wie Goethes und unser Leben: immer wenn man den Eindruck hat, nun gäbe es langsam etwas viel Gewöhnlichkeit kommt nach einer kurzen Phase des Aushaltens viel frischer Wind und neue Umstände, so dass man ganz vergisst, dass man das Buch beiseite legen wollte.
Goethe brachte wichtige Impulse in seine (und immer noch in unsere) Zeit. Mit dem Prinzip: „Der Mensch kennt sich nur selbst, indem er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird“ sucht er nicht das reine, unabhängige Wesen an sich sondern das, was sich im Austausch in uns bewegt und damit zu dem wird, was wir Welt nennen.
Goethe lebte in einer faszinierenden Zeit: die zersplitterten Herzogtümer, das Ende des Kaiserreiches, die französische Revolution, Napoleon und seine Feldzüge, erobert werden, überleben und wieder andere Herrschaften: eine Zeit, viel komplexer, wechselhafter und anspruchsvoller als unsere (die neben allen Kriegen, menschlichen und wirtschaftlichen Gezeiten für uns in der Schweiz spürbar seit 20 Jahren vor allem mit der Ökonomisierung und einer Erhöhung von Rechner- und Speicherkapazitäten aufwartet). Und fand darin die Musse, zu Reflektieren, Differenzieren und fasziniert von Individuen zu sein, die sich mit Selbstverständlichkeit auch als solche verhielten – noch vor dem Urteil, wie sie handelten: sein Herzog, Napoleon, viele Zeitgenossen.
Natürlich ist Goethe ein Narziss, ein Verteidiger der Aristokratie und Patriarch. Wie er aber seiner Zeit Impulse gibt, reflektiert, Vorstellungen und Selbstverständlichkeiten in Frage stellt ist sehr belebend. Schon nur sein Verständnis einer natürlichen Religion würde viele Konfessions-Kriege erübrigen. Er entwickelte eine Wertschätzung für Individualität. Subjektivität, die Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt und wie er darin gestaltet wird und gestaltet. Insofern verstand Goethe Poesie auch als Poiese: gestalten, entwickeln. Er lotete die Grenzen aus, inwiefern wir uns auf unsere inneren Bilder und Gefühle von Wirklichkeiten verlassen können und wo wir doch auf die nüchterne Realität bauen müssen. Und dann doch alles in der inneren Welt, im eigenen Bewusstsein im Rahmen der Pole, die uns manchmal fast zerreissen (und die er in seinen Texten meist auf mehrere Personen verteilte, um sie darstellen zu können) selbst ausgestalten können.
Goethe hat die Freiheit ausgekostet, mit Tätigkeit und Vorstellungskraft sein Innenleben auszugestalten, mit Farben zu füllen, mit Bedeutung zu besetzten und so zu etwas einzigartigem zu machen. Eben: werde der du bist.

Goethe. Biografie von Rüdiger Safranski
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