Der Historiker, Philosoph und Soziologe Karl Schlögel schreibt fulminant, farbig und sehr belesen zur Zivilisationsgeschichte und Geopolitik des Raums. Er kritisiert die Geographie, die sich aus der Geschichte verabschiedet habe – und beschreibt in fülligen Geschichten das Erleben, den Zeitgeist bezüglich Raumgefühl, -diskurs und -verständnis.

Nachdem er unsere Sprache bezüglich Raumbegriffen analysiert hat geht er essayistisch an Raumthemen heran – mit dutzenden von Geschichten auf knapp 600 Seiten dargestellt -und jede Geschichte ist für sich abgeschlossen.

Speziell hebt er den 9. September 2001 mit der Zerstörung der Zwillingstürme in New York sowie den Fall der Mauer als raumbestimmende und -relativierende Erlebnisse heraus, betrachtet dieses Erfahrungen bezüglich Eingriffen in vermeintlich sicheren respektive als stabil verstandenen Raumkonzepten auch als prägend oder gar auslösend für den Spatial Turn, den der bis zum aktuellen Körperkult als weitere Form von Raumerfahrung weiterspinnt. 

Ein faszinierender, fast im orientalischen Stil mänandernder Geschichts- und Raumfluss eröffnet sich, zeigt die Kulissen und wie sie herumgeschoben werden und ist auch ein philosophischer Aufenthalt in dem, was alles unter Raum verstanden, versprochen, befestigt und gedeutet wird.

Mit der „Wiederkehr des Raumes“ illustriert er von vielen Seiten das wieder bewusst gewordene Raumzeit-Erleben, und meint damit, wie geschichtlich relevante Erlebnisse sowohl mit Zeit als auch mit Ort und räumlichen Kategorien verknüpft sind. Der Autor gesteht, dass für ihn das raumbezogene Zeitbewusstsein so plausibel ist, dass er sich nicht erklären kann, wie das überhaupt jemals verloren gehen konnte. Offenbar gab es in den goldenen 30 Jahren von 1960 bis 1990 aber viele, die vor lauter Gegenwart die Genese derselben vergassen – und damit die Ereignisse auch weder örtlich noch zeitlich verorten mussten. Hier folgt er fast der Devise: „ Aus der Zeit lesen wir den Raum“, indem Raumverständnis immer in den historischen Kontext gestellt wird.

Unter „Kartenlesen“ zeigt er Facetten der Lebenswichtigkeit kartographischer Orientierung: Die Karten von Gangs, Kriegskarten (unter Anderm mit Fluchtwegen und Versorgungstunnels), Ghettokarten, Fluchtkarten für Juden aus Deutschland, Rekonstruktion einer vergangenen Stadt). Es wird anhand von 23 Essays aufgezeigt, wie die Kartierung unser Verständnis von Raum beeinflusst und geprägt hat – und wie man herausgefordert ist, Reduktionen und Fokussierungen vorzunehmen, um etwas als Karte darstellen zu können.

In „Augenarbeit“ geht der Autor auf die immense Arbeit der Augen ein, die aus Bildern, Texten, Karten versuchen, eine Gesetzmässigkeit oder Geschichte herauszulesen.  Auch der Reiseführer Baedecker kommt zum Zug: darin werden an beliebigen Orten alle Ereignisse der Geschichte, des Untergrunds, der Bevölkerung dargestellt, bis zu den Empfehlungen, was zu Essen sei, wo gewohnt werden kann und wie hoch die Kurtaxe ist. Eine immense Leistung, die selbst wiederum zu einer gegenseitigen Anpassung der Kurtaxen führte. Mit der Bewegung im Raum – beispielsweise mit der Eisenbahn werden Herrschaftsgebiete zu Wirtschafts- und Verkehrs- und damit auch zu Kulturräumen. 

Unter „Europa diaphan“ wird beschreiben, wie nun all die Karten in uns mit der Schöpfung von Europa wieder ins Fliessen geraten, eben erkannte Grenzen undeutlicher werden.

Insgesamt eine berauschende Fülle von Geschichten, die sich alle in Raum und Zeit bewegen, einladen mitzugehen und einem auf Reisen mitnehmen: durch Länder, Kontinente, Jahrhunderte, Kulturen, Verschiedenheiten. Und damit neben einem Buch über Raum auch zum Beispiel für jeden Abend eine Geschichte, um in raum- und zeitlose Träume zu entschweben.

Im Raume lesen wir die Zeit von Karl Schlögel