Selten kam ich mir so ungeschickt vor: Auch als Systemiker bin ich nie auf die Idee gekommen, dass man auch die Schweizer Geschichte – wie das nun André Holenstein nachholt – systemisch sehen könnte. Es ist einleuchtend, dass man durch das geprägt wird, was einem umgibt und nicht einfach aus sich selbst heraus einen Charakter entwickelt (so meine alltagspsychologische Erklärung nach der Lektüre des Buches). Auf unsere Nation bezogen: die Schweiz ist nicht einfach seit Urzeiten eine Gruppe eigenwilliger Charakterköpfe, sondern logischerweise (auch) durch die Begegnung mit ihrem Umfeld geprägt worden. Sie ist inmitten viel grösserer Kräfte gewachsen. Der Historiker beschreibt, wie die Schweiz sehr lange kein Staat war, sondern eine kleine Gruppe von Regionen (die später zu Kantonen wurden), die sich meist gezwungenermassen zusammenrotteten, um grössere Bedrohungen zu vermeiden. Er legt auch minutiös dar, wie die Kantone sich bekämpft haben, und dass ausländische Mächte immer wieder intervenieren mussten, damit sich die Kantone nicht trennten und die Köpfe einschlugen. Und dass es die ausländischen Mächte waren, die der Schweiz die Neutralität aufdrückten – mit der Verpflichtung, eine Armee zu haben, die schaut, dass nicht der Feind (Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien) durch die Schweiz hindurch von hinten angreift. Sozusagen eine Armee, die die Grenzen nach innen verriegeln musste. So waren sie sicher, dass von dieser Seite der grosse Feind nicht eindringen kann, waren mit diesen nicht Grenze an Grenze, sondern hatten eine neutrale Zone zwischen sich, die erst noch den Zugang aller über die Alpenübergänge frei hielt. Was die Schweizer umgehend nutzten, um von allen Nationen rund herum Gelder für Reisläufer- und Truppenkontingente, deren Ausbildung und Mobilisierung entgegenzunehmen und im Ernstfall dann mit Verweis auf die Neutralität keine Gegenleistungen für diese üppigen Pensionen zu erbringen. Er zeigt auf, wie die Schweiz – als Reaktion auf die verunglimpfenden Kampagnen der Habsburger – die Rütli-idee kreierten, um sich trotz aller Verletzung von Vereinbarungen und Versprechungen doch als gute Menschen zu fühlen. Und wie das dann mit den Reisläuferdiensten und deren Organisatoren kollidierte: sie waren nicht die edlen, einfachen Bauern der Rütlilegende, die nur ihre Freiheit gegen fremde Mächte sichern wollten, sondern wurden eben damit reich, konsumfreudig und weltgewandt, indem sie im Interesse der fremde Mächte deren Geschäfte erledigten, indem sie diesen halfen, die Freiheit anderer zu begrenzen – und sich dann traumatisiert und verkrüppelt kaum mehr ins soziale Leben integrieren konnten. Eine der wenigen Aufstände in der Schweiz entsprang übrigens dem Grund, dass die Vermittler der Reisläufer viel verdienten, die Krüppel dann aber den Familien überliessen – aus den Abgaben der Kriegsgewinnler entstanden so erste Bürgerheime und soziale Einrichtungen. Was mir aber primär entgegenkam ist die bald 500 Jahre alte Tradition der SchweizerInnen, auch in den grössten Differenzen den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, und darauf das Leben aufzubauen. Das war zwischen den Grossmächten nötig, das ist Diplomatie und das ist Organisationsberatung und Coaching heute. Nicht das Trennende, sondern auch das (noch so kleine) Verbindende sehen und darauf aufbauden (teilweise wackelige) Brücken bauen ist ein Kulturelement, das ich persönlich weitertrage. Und neben mir in der Züricher City sind andere, die andere Elemente weitertragen: sich gegen gute Bezahlung in globale Schlachten werfen, egal wie sie uns betreffen werden.

Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte von André Holenstein.