Ein anregendes, aber sehr anspruchsvolles Buch, das ich wahrscheinlich nicht wirklich verstanden habe. Der Autor vertritt die These, dass die Gesellschaft schon digitalisiert war, bevor die Informatik entstand. Und dass die Informatik mit ihren Eigenheiten die Antwort auf etwas war, wonach die Gesellschaft sich gesehnt hat. Die Digitalisierung entsprach damit einem Bedürfnis der Gesellschaft und löste ein Problem. Und immer, wenn eine Entwicklung eine Antwort auf eine Lücke ist, kommt der Siegeszug des Neuen rasant. Insofern: Nicht die Digitalisierung hat die Gesellschaft verändert, diese hat sich schon vorher verändert, die Digitalisierung hat das noch mehr ermöglicht, verstärkt.
Der Digitalisierungsbedarf wird mit den Entwicklungen seit der Moderne begründet, mit den technologischen, logistischen Entwicklungen. Den Entwicklungen in Handel, Verwaltung, Regierungen, Produktion.
Vereinfacht gesagt: „Digit“ bedeutet Ziffer, Stelle, Zahl. Und zu zählen gibt es seit der Moderne unendlich viel. Datenerfassung, Listen, Verwaltungsakte haben nur auf die Digitalisierung gewartet. Gut, man könnte sagen, dass ja schon die Bibel von einem Volkszählungsakt ausgelöst wurde, aber der Hunger nach digitalem Futter war niemals so gross. Sicher ist er auch angesichts der Möglichkeit, dass er gestillt werden könnte, erst richtig gewachsen. Schon vorher, im 19. Jahrhundert wurden in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften statistische Mustererkennungstechnologien angewendet, um menschliche Verhaltensweisen zu erkennen, zu regulieren und zu kontrollieren. Schon damals war man fähig, die Muster in der Gesellschaft zu erkennen, was nun mit Informationstechnologie wesentlich tiefer, einfacher, breiter möglich ist. Das Herausarbeiten der Muster wird mit IT wesentlich vereinfacht und bietet damit Raum für ökonomisches, wissenschaftliches und politische Steuerungseingriffe. Dazu wird erst alles in digitale Daten übersetzt, damit es bearbeitet und nach weiteren Mustern abgesucht werden kann. So wird die Welt mehrfach verdoppelt, da sie für verschiedene Belange aus der Realität in die Datenwelt abgebildet wird, womit das digitalen Universum grösser wird als die reale Vorlage. Das ist endlos.
Was und weshalb sich Muster anbieten und damit der IT Hand bieten, das durchdringen viele philosophische Exkurse im Buch.Der Autor zerlegt denn auch alles in Digits – er dekonstruiert Worte, die Kommunikation, Steuerungen. Eine Thermostat hat die Aufgabe, die Wärme in einer Wohnung zu regulieren. Die richtige Temperatur ist für die BewohnerInnen wichtig. Doch ein Thermostat weiss nicht, was 17 oder 18 Grad heisst, er weiss nur, wann es mehr oder weniger von etwas braucht. Dazu sendet er nur Einsen und Nullen durch die Leitung und schon wird gedrosselt oder geheizt. Die Digits sind selbst ohne Sinn und Wissen und doch verlassen wir uns darauf, damit letzten Endes Sinn und Wissen vermitteln zu können, beispielsweise indem wir Sinn in Worte, diese in Buchstaben, diese in Pixel und diese in Einsen und Nullen übersetzen – und wieder zurück. Doch Nassehi, der den Anspruch hat, mit der Theorie der Digitalisierung eine neue Theorie zu Gesellschaft, deren Fragen mit der Digitalisierung beantwortet werden, zu liefern greift weiter, geht tief in Philosophie, Physik, Linguistik hinein.
Für mich ist vieles etwas weit gegriffen – aber die Vermutung, dass die Informatik die Gesellschaft überfallartig, als Fremdkörper, mit nicht zu uns passenden Methoden sozusagen überraschend verändert habe, wird abschliessend beantwortet: die Gesellschaft (wie alle Systeme, die Muster haben) war schon digital, die Informatik hat offene Türen eingerannt. Das digitale Potential der Welt wird nun erschöpfend ausgeschöpft, das kam vielen Kräften zupass – viele andere Potentiale liegen noch brach. Der Autor geht noch weiter, wenn er antönt, dass die Digitalisierung am Schluss das Gegenteil einer Kolonialisierung der Welt war, gegen die man sich wehren wollte. Er lässt durchblicken, dass nur mit der Digitalisierung die enorm komplexe und vernetzt zu lösende Aufgabe bewältigt werden könnte, disruptiv genug vorgehen zu können, um unser Klima zu retten – das wäre dann schon fast wieder ein erhebender Nebenaspekt, den er vorstellt.