Der Neurologe Oliver Sacks hat uns mit seinen Fallgeschichten (z.B. Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte; Awakenings -Zeit des Erwachens) ermöglicht, am Leben von Menschen mit Wahrnehmungseinschränkungen teilzunehmen. Durch seine Beschreibungen wird fast ein Blick durch die Augen seiner Protagonisten möglich. Damit hat er viel dazu beigetragen, diese Menschen zu verstehen, ihre Einschränkungen nachvollziehen zu können.
Mit „on the Move“ legt Sacks seine Autobiographie vor. Die ersten hundert Seiten sind mühsam zu lesen. Es fällt auf, wie sehr in den anderen Büchern seine Art der detaillierten Beschreibung von Patienten es den Lesenden überlässt, das Lebensgefühl der Beschriebenen selbst mit Emotionen, Hoffnungen, Freude usw. füllen und damit etwas nachfühlen zu können. Wenn es nun um eine Autobiografie geht, würde ich erwarten, dass dies vom Autoren selbst gefüllt wird. Aber er beschreibt auch sein Leben wie einen Fall, zu dem man selbst Stellung nehmen, ein Verhältnis finden muss. Und so wird es nach und nach auf den 444 Seiten sein Leben klarer: eine getriebene Neugierde, anhaltende Leidenschaften, Arbeit als Beziehung, insgesamt ein wundervolles Leben eines Mannes, der sich als Neurologe darstellt, fasziniert davon ist, wie Wahrnehmung durch Veränderung von Hirn und Körper geprägt wird. Immer sucht er Weite und will nachvollziehen, wie andere (Er-)leben.
Und gegen Schluss relativiert er sein eigenes Lebenswerk: er hat zeitlebens untersucht, was bei Abwesenheit bestimmter neurologischer Funktionen an Einschränkungen entsteht. Nun beginnt er zu erörtern, dass das Vorhandensein von neurologischen Funktionen noch nichts davon festlegt, was man mit Wahrgenommenem macht. Er beschreibt die verschiedene Verarbeitungs-, Verknüpfungs-, Bewertungs- und Beurteilungsstufen nach dem Empfang der neurologischen Impulse. Und wie unser Denken und Handeln nach einem immensen Vernetzungsvorgang zwischen (fast allen) neurologisch aktiven Teilen des Menschen im ganzen Körper zu dem wird, was unsere Individualität und Einmaligkeit ausmacht – eigentlich würde das gleich nochmals ein Forscherleben brauchen, doch zu Glück hat dies sein Freund erforscht, so dass es sich nun auf Lebensende hin zu einem Ganzen zusammenfügt.
Für mich ist es damit besonders interessant, weil mit dieser Mischung im zweiten Teil des Buches sowohl neurolgische und neuropsychologische wie auch Fragen der Wahrnehmungskonstruktionen, der Bildung von Wertungen und Handlungsoptionen reflektiert und integriert werden. Dies ist umso wohltuender, weil einige Neurologen erklären wollen, wir seien von den neurologischen Abläufen bestimmt – mit Oliver Sacks zeigt nun ein sehr kompetenter Neurologe, dass wohl Spezialisten, die nur ihren Fachbereich sehen (etwas unschön aber klarer gesagt: Fachidioten) es so eng sehen können. Das das aber mit einer integralen Sichtweise viel vernetzter, dynamischer und letzlich auch im Coaching umsetzbar wird.
On the Move, mein Leben von Oliver Sacks