Spatial Turn, ein interessantes Phänomen. Die Wende zum Raum hin, die Ende der 1980-er / Anfangs 1990 stattfand. Diese Sichtweise ist ein möglicher Ausdruck der Entwicklung des Zeitgeistes.  

Was hat sich denn bezüglich Raum verändert? Etwas plakativ gesagt: vorher schauten die Astronomen von der Erde ins Weltall, heute vom Weltall auf die Erde; Musiker machten eine Tour, um Albumverkäufe anzuregen, heute machen Sie ein Album, um auf Tour gehen zu können. Früher war ein Atlas unverzichtbar, um sich die Ferne vorstellen zu können, heute ist das GPS nötig, um zu wissen, wo ich bin. Vorher war alles auf die Welt und Globalisierung als Ganzes gerichtet (vielleicht auch, weil es verbaut war): Welthandel, Blöcke Kommunismus – Kapitalismus, Internet. Jetzt ist vieles auf Nationalisierung, Rückgewinnung der Regionalität, Identitätssuche im Raum gerichtet. 

Es wird beschrieben, wie Instrumente für die Raumbeschreibung immer mehr für die Beschreibung von geistigen Räumen genutzt werden: MInd-Maps, Darstellung von Geschichte, Kultur, Managementtechniken in Form von Karten. Die lange behandelte „Perspektive“ in der Kartografie, die ausmacht, wie die Karte aussieht, ist auch bei diesen anderen Karten der zentrale Meta-Aspekt: was ist die Perspektive, was will sie zeigen und was grenzt sie – der Darstellbarkeit zuliebe – aus? Karten zeigen auf, was man sonst nie in der Art sieht – und immer wieder muss man sich dann erinnern, dass die Karte wohl eine selektive aber nicht eine erlebbare Wirklichkeit darstellt.

Das Buch beschreibt die Entwicklung des räumlichen Denkens von der konkreten Landschaftszeichnung (Chorografie) über die Projektion von Raum auf Karten (Geografie) zur Aufzeichnung von gedanklichen Räumen (x-maps). Und dabei wird sichtbar, dass bis im 15. Jahrhundert der erlebte Raum dargestellt wurde, danach der projizierte, mögliche Raum. Dieser wollte erobert werden, und als das möglich wurde sollte er möglichst erreichbar sein (wozu Karten eben hilfreich waren). Die Zeit als Faktor kam ins Spiel, bis zu den im Internet möglichen virtuellen Reisen irgendwohin (auch ins All). Räumliche Verfügbarkeit (auch kolonisierbar, nutzbar sein) war wichtig, bis die Welt verfügbar war. Solange es Grenzen gab, floh die Verfügbarkeit ins abstrakte: Geist, Wirtschaft, Ferne. Und im Moment, als das alles real möglich wurde – zwischen 1950 und 2000, als Meilenstein und Bild dafür steht der Fall der Mauer – hat sich der Blick gewendet: dorthin wo man ist, vom geistigen zum physischen Raum, von der Vision zur Realität. Der Spatial Turn hat zu Sozialraumorientierung geführt; wahre Kosmopoliten sind nicht solche, die alles bereisen, sondern die, die überall zuhause sind – oder heute nachhaltiger: die einen Ort bewohnen und über den Rest der Welt informiert sind. Der erlebbare Nahraum, die Region, die Nation wurden wichtig.

Mit dem Wegfall des Wettbewerbs zwischen Kapitalismus und Kommunismus fielen Motivationen zusammen, ohne Feind war ein Kampf auf ideeller und ideologischer Flughöhe obsolet. Es zeigte sich, dass ohne Gegner Identität fehlt, und so kam man ziemlich abrupt auf den eigenen Boden (im Sinne des Wortes in den Raum) zurück: nicht viel ideelles, aber Konkretes im Alltag. erst schwächte das den Westen; dann rappelt er sich langsam zu neuen „Perspektiven“ auf – der Blick senkte sich vom Horizont auf die eigenen Füsse, die Strasse, das Quartier, maximal auf die Nation.

Anders gesagt: Raumgeist löst Zeitgeist ab, das Übergeordnete wird noch in der Faszination für die Informationstechnologie gelebt, die den Druck des begrenzten Raumes etwas lockert – und „Weite“ verspricht, aber näher, lokaler (Home office, Internet der Dinge, Welterfahrung ohne vom Stuhl aufzustehen) bringt. Der Marsflug ist abgesagt, der Mond auch nicht mehr begangen, die Erde ist mehr als genug.

Andere meinen, dass mit Marx um 1850 begonnen wurde, den Raum zu negieren – und genau mit dem Fall der Mauer kam er wieder zurück: Marx meinte, Raum sei ein störender Nebeneffekt im Verwertungsprozess. Die Bewegung des Produkts vom Produktionsort zum Markt gehöre zu den Herstellungskosten und bilde einen nicht notwendigen Moment der Zirkulation. Ab da wurde der Raum negiert, minimiert, nicht mehr mitgemeint – erst nach dem spatial Turn erhielt er explizit wieder Aufmerksamkeit.

Im Buch zeigen sich dutzende von Ansätzen aus wirtschafts-, sozial-, kultur- und humangeografischen Blickwinkeln. Letzten Endes eine irritierende Vielfalt mit der Quintessenz, dass Raum vorübergehend weniger Bedeutung hatte und nun zurückgekehrt ist. Leider ist keine physikalische Studie dabei, die könnte vieles erläutern, da gerade hier der Raum sich von ausbreitend, gekrümmt, zurückkehrend zu etwas entwickelt, was eigentlich eine Nebenfolge der Zeit ist. Und diese hat hier nun wieder mal eine Rolle gespielt und hat den Raum in vielen Disziplinen wieder zu einer Grösse gemacht, die Referenzpunkt für Geschichtserzählung, Gegenwartsgestaltung und Zukunft darstellt – und dabei die Zeit manchmal (aus meiner Sicht) schon wieder ziemlich vernachlässigt. 

Psychologisch gesagt: Raum verschwand als Thema, als er nicht mehr verfügbar, domestizierbar war (nicht erreichbar, z.B. hinter dem eisernen Vorhang) und wurde wieder ein Thema, als er zwar wieder verfügbar, dafür aber ein Problem wurde: zu wenig Boden (=Raum) in den Städten, Raumdruck, Raumüberlastung. Somit kommt er mehr ins Visier dessen, was gestaltet werden muss (Architektur, Regionalplanung, Sozialraumorientierung). Nachdem die Wirtschaft einiges dahin gebracht hat, dass es aus dem Ruder läuft, wird nun nach der Öffentlichkeit, der Allgemeinheit gerufen – diese muss die Reflexion ankurbeln, Raum kommt somit wieder in den öffentlichen Diskurs, Korrektive sind nötig.

Das Buch zeigt viele Blickwinkel auf, ist anregend aber doch nicht  so recht schlüssig. Vielleicht, weil es Raum mit Raum erklären will und beispielsweise Zeit (in Form von Geschichte) als konkurrenzierende Sichtweise darstellt. Es schafft keine Schritte zu Verbindungen wie Raumzeit (Einstein), Zeiträumen (Bewusstheitsentwicklungen), ideologischen Räumen (Wegfall von Kommunismus und Wettbewerb der Systeme), geistigen Räumen (von der herbeigewünschten Zukunft zur Gestaltung des Hier und Jetzt). Dann kämen wohl mehr Aspekte zusammen, die erklären können, weshalb heute beispielsweise die Gemeinwesenarbeit (die früher das Zusammenleben, die Gesellschaft selbstorganisiert und partizipativ weiterentwickeln wollte) heute im Sozialraum (also innerhalb des altersentsprechenden räumlichen Aktionsradius) Freizeitanlagen führt und Beratung bezüglich Sozialintegration von Kindern und Migranten vermittelt – also vom ideellen, politischen zu einer Form der Sozialversorgung wurde. Auch diese Wende, die ziemlich genau um 1990 erfolgte, wird als Spatial Turn bezeichnet.

Spatial Turn – das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften von Jörg Döring und Tristan Thielmann